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Dorfgeschichten

Hemmes mörderischer Kick

Aschewolke über Siersleben
Asche­wol­ke über Siersleben

Neben Heck­laus her­un­ter­ge­kom­me­ner Eck-Knei­pe befand sich im Erd­ge­schoß ‑außer dem Kino in der obe­ren Eta­ge- noch eine Kon­sum-Ver­kaufs­stel­le. So kam es, daß auf der Rück­sei­te der Ver­kaufs­stel­le jede Men­ge Ver­pa­ckungs­ma­te­ri­al, wie Geträn­ke­käs­ten und Papp­kar­tons, her­um­la­gen. Wir ‑mei­ne Kum­pel und ich- ver­trie­ben uns die Zeit bis zur Öff­nung der Kino­kas­se, indem wir mit lee­ren Kar­tons her­um­bolz­ten und sie uns ele­gant tän­zelnd zuscho­ben. Nach eini­ger Zeit des Spie­lens schob sich Hem­me um die Ecke. Hem­me war furcht­bar stark – so stark, daß sich sei­ne Arme immer von selbst vom Kör­per abspreiz­ten. Aus die­sem Grun­de hat­te er Schwie­rig­kei­ten, durch Türen zu gehen, da er seit­lich hän­gen blieb. Selbst das Tor, das zum gemein­sa­men Hof von Kino, Knei­pe und Kon­sum führ­te und das für gro­ße, dicke Pfer­de mit jeder Men­ge Bier­fäs­ser auf einem Wagen bemes­sen war, selbst die­ses Tor war fast nicht weit genug für ihn. Jawohl – so stark war Hemme.

Mit der Höhe dage­gen hat­te er nie­mals Pro­ble­me – obwohl ihm Schuh­ma­cher­meis­ter Cain vom Denk-mals­platz stets Wes­tern-Absät­ze unter sei­ne Schu­he nagel­te und er somit auf Eins­vier­und­sech­zig kam. Die Elvis-Haar­tol­le inbe­grif­fen. Aus die­sem Grun­de neig­te Hem­me sei­nen Kopf immer ein wenig nach vorn, wenn er durch eine Tür ging, um oben nicht anzu­sto­ßen.
»Eh, Hem­me – los knall mit
Er grins­te geschmei­chelt, wobei er sich bemüh­te, wie Elvis sei­nen rech­ten Mund­win­kel fies nach oben zu zie­hen und gur­gel­te die gesam­te Hälf­te sei­nen Eng­lisch­wort­schat­zes – Oll­reid, Boys! (Die ande­re Hälf­te lau­te­te Ogeh, Görls!). Nach­dem er extrem läs­sig sei­ne Casi­no oder Turf zwi­schen sei­nen Zäh­nen her­aus nahm ‑wobei er Dau­men und Mit­tel­fin­ger zu einem Ring krümm­te- schnipp­te er sie hoch in die Luft, um die Kip­pe beim Her­ab­fal­len mit dem Hacken weg­zu­ki­cken. Immer­hin, das Schnip­pen gelang.
Wäh­rend noch die Kip­pe auf dem Boden kul­ler­te, zeig­te er uns, wie man rich­tig kickt und unse­re Bol­ze­rei ging wei­ter – wobei man sich vor Hem­mes wie Wind­müh­len­flü­gel krei­sen­den Armen in Acht neh­men muß­te.
Wäh­rend die­ses Pro­ze­de­res hat­te ein Kum­pel Hem­mes, der ‑trotz aller bestehen­den Freund­schaft- noch eine offe­ne Rech­nung begli­chen haben woll­te, zwei Papp­kar­tons wie unab­sicht­lich mit den Fuß-Innen­sei­ten neben­ein­an­der gescho­ben und bei pas­sen­der Gele­gen­heit Hem­me zum Duell in Sachen Ziel­schie­ßen her­aus­ge­for­dert: Los – ins Kel­ler­fens­ter! Zuerst nahm der Her­aus­for­de­rer Anlauf, kick­te und – einer der Kar­tons flog weit am Ziel vor­bei, genau­so, wie beab­sich­tigt.
Hem­me bleck­te her­ab­las­send sei­ne obe­re rech­te Zahn­leis­te und ver­such­te, läs­sig über sei­ne eige­ne Schul­ter zu spu­cken. Aber der Wind stand ungüns­tig. Nach­dem er sich sei­ne Spu­cke vom Schul­ter­pols­ter sei­nes groß­ka­rier­ten Sak­kos gewischt hat­te, nahm Hem­me breit­ar­mig Anlauf und knall­te sei­nen Fuß gegen den zwei­ten Kar­ton:  Aauuuaaahh!… – Auaah! … Du Sau! … Du Rus­se!! Sein Papp­kar­ton flog nicht ganz so weit – weil mit die­sem und von ihm ver­deckt, auch ein mit Asche gefüll­ter Eimer durch die Luft wir­bel­te. Und sonst? Heklaus Kino, der Dorf­platz samt Lin­de, ganz Siers­le­ben lagen tage­lang unter einer Aschewolke.

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Rilles Extrastarke

In der Zeit nach Kriegs­en­de tru­gen wir Kin­der oft­mals Klei­dungs­stü­cke, die eigent­lich nicht für uns gefer­tigt waren. Und wenn doch, dann fast immer aus alten, umge­ar­bei­te­ten Kla­mot­ten. In vie­len Haus­hal­ten hing noch Frie­dens­wa­re – die Anzü­ge und Män­tel des Vaters, die die­ser nie mehr im Leben brauch­te; er besaß ja Kei­nes mehr. Und so ein­fach mal neue Klei­dungs kau­fen, ging nur sehr beschränkt.

hosenträger extrastark
Hosen­trä­ger extrastark

Auch ich trug damals eine alte, dun­kel­blaue, viel zu gro­ße, soge­nann­te Ski-Hose, die mei­nem Vater gehör­te, der kein Sol­dat gewe­sen war, son­dern die Kriegs­jah­re unter­ta­ge arbei­te­te um das Kup­fer abzu­bau­en, wel­ches über­ta­ge, mit Zinn gestreckt, vom Ural bis zum Atlan­tik über das Land ver­streut wur­de. Mei­ne Dun­kel­blaue wur­de von einem Gür­tel am Her­ab­fal­len gehin­dert und der Hin­tern hing sehr weit unter den Knie­keh­len. 1952/​53 sah man damit genau so lächer­lich aus, wie heu­te, wo sol­cher­art Hosen schon lan­ge hipp sind. Hopp her.
Ril­le, einer mei­ner Kin­der­kum­pel, hat­te genau das­sel­be Pro­blem der zu wei­ten Hose. Er aller­dings ließ die Sei­ne tra­gen – von Hosen­trä­gern. Die­se waren Wehr­machts­gut und tru­gen auf den Nickel-Ver­stell-Din­gern eine Prä­gung: EXTRA STARK (der Patent­ver­merk befand sich auf der Rück­sei­te: D.R.P.) Und sie waren nicht nur extrastark, son­dern mit einem knap­pen Vier­tel­me­ter auch noch extra­breit.
Ril­le und ich waren am soge­nann­ten Kriegs­gra­ben unter­wegs und klet­ter­ten von dort auf die Hal­de des Edu­ard­schach­tes. Wir stro­mer­ten gern hier oben auf den Hoh­len rings um Siers­le­ben her­um und such­ten nach Fisch­ab­drü­cken. Dazu spal­te­ten wir uns geeig­net erschei­nen­de Schie­fer­plat­ten um auf deren Spalt­flä­chen nach Abdrü­cken von Fos­si­li­en zu fahn­den, die so sel­ten nicht waren. Die Schöns­ten davon sta­pel­ten wir zu Hau­se, wo schon ande­re, vom Vater von unter­ta­ge mit­ge­brach­te Stei­ne und Mine­ra­li­en in Kis­ten lager­ten.
Wir stro­mer­ten zwi­schen alten Stel­lun­gen und Unter­stän­den der Wehr­macht her­um, als Ril­le begann, meh­re­re Hän­de­voll Gras aus­zu­rup­fen, sich in einem Unter­stand einen Platz aus­zu­su­chen, um das zu tun, was wir abprot­zen nann­ten. Die­sen Aus­druck hat­ten wir von Kriegs­teil­neh­mern auf­ge­schnappt (er war auch spä­ter, als ich in der NVA dien­te, immer noch gebräuch­lich).
Ril­le protz­te also ab und begann, das abge­ris­se­ne Gras sei­nem beab­sich­tig­ten Ver­wen­dungs­zweck zuzu­füh­ren. Fer­tig.

Er stand er auf und griff mit sei­nen Hän­den kreuz­wei­se zu den Hüf­ten, um die Hosen­trä­ger zu fas­sen und sie über sei­ne Schul­tern zu heben. Allein – die extra­brei­ten Extrastar­ken woll­ten nicht und Ril­le muß­te kräf­ti­ger an ihnen zie­hen. Was er dabei nicht bemerk­te, war, daß er mit dem Schuh­ab­satz auf einem der Extra­brei­ten stand. Ril­le, du bist ein Dutz!
Durch Reden mit mir abge­lenkt, zerr­te er an den Gum­mis und schaff­te es schließ­lich, sie unter sei­nem Schuh her­vor­zu­rei­ßen. Flipp – Die Hosen­trä­ger schnell­ten mit dop­pel­ter Schall­ge­schwin­dig­keit hoch, wobei sie eine Ladung des­sen mit nach oben ris­sen, wel­ches Ril­le unbe­merkt und unge­wollt auf einem der Trä­ger abge­legt hat­te. Klatsch! – Ril­les Wan­ge und Hals sahen aus, wie fri­scher Lehm­putz und sein Ohr war bis hin zum Trom­mel­fell ver­stopft. Gerüch­te, wonach auch aus dem ande­ren Ohr ein klei­nes Würst­chen her­vor­lug­te, kann ich nicht bestätigen.

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Der falsche Ewester

So gut wie alle über Land füh­ren­de Stra­ßen und Wege rings um Siers­le­ben waren von Obstbäu­men gesäumt: Etwas sel­te­ner Äpfel und Bir­nen, etwas mehr Pflau­men und am häu­figs­ten Kir­schen. Die­se Bäu­me konn­ten von den Gemein­den als Ein­zel­ex­em­plar oder auch gleich straßen‑, oder kilo­me­ter­wei­se gegen einen gerin­gen Obo­lus gepach­tet wer­den. Kurz nach dem Krieg war die Pacht der Pracht beson­ders begehrt, ver­sprach doch der Ver­kauf der Ern­te eine beacht­li­che Auf­sto­ckung des ver­füg­ba­ren Bud­gets – wenn auch nur wäh­rend der Ern­te­zeit. Aber auch damals waren bereits die rich­ti­gen Bezie­hun­gen erfor­der­lich, um sich als Ewes­ter (Öbs­ter) bezeich­nen zu kön­nen – Die Bezeich­nung, mit der die Päch­ter umgangs­sprach­lich bezeich­net wur­den.
Unter uns Kin­der gras­sier­te die pure Angst vor den Ewes­tern. Sie gal­ten als heim­tückisch und kin­der­ver­prü­gelnd, vater­pet­zend und poli­zeidro­hend. Und das nur, weil man sich einen Mund, nun gut, man­chmal auch meh­re­re Mün­der voll Kir­schen gönn­te. Na ja, hin und wie­der stopf­te man ein paar Pfund Kir­schen zusätz­lich unter das Hemd; aber das war ja nur ein klei­nes Kin­der­hemd. Und die Stra­fe folg­te sowie­so auf dem Abtritt. Öbs­ter ver­steck­ten sich oft, um erst dann aus ihrem Ver­steck zu bre­chen, wenn man rela­tiv aus­weg- und hilf­los auf sei­nem Baum festsaß.

Zum Bewa­chen ihrer Bäu­me hat­ten die meis­ten Öbs­ter einen Schä­fer­kar­ren oder einen Bau­wa­gen am Stra­ßen­rand auf­ge­stellt, in denen sie wäh­rend der Ern­te­zeit ihre Tage und auch die Näch­te ver­brach­ten. Im Innern der Wagen sta­pel­ten sich Kör­be, eine Waa­ge, Korb­ha­ken, Sägen, rote Warn­flag­gen für auf­ge­stell­te Lei­tern und wei­te­res Werk­zeug; die Lei­tern selbst lagen neben dem Wagen im Stra­ßen­gra­ben. Hat­te man Ver­lan­gen, das Obst zu kos­ten, war es ange­bracht vor­her den Wagen genau­es­tens zu inspi­zie­ren. Dräng­te sich Ziga­ret­ten- oder Pfei­fen­qualm aus den Rit­zen? Schnarch­te je­mand? Lehn­te in der Nähe irgend­wo ein Fahr­rad? Wenn alles frei von Gefahr schien, waren wir Dorf­ben­gel eins-zwei-drei auf dem Baum. Manch­mal aber war der Öbs­ter schlau­er als wir, ließ uns auf den Baum klet­tern und war dann schnel­ler aus dem Häus­chen auf Rädern als wir von den Bäu­men. Da half es auch nicht, wenn wir »Mund­raub, Mund­raub« schrien ‑so, wie wir es aus den Kriegserzäh­lungen unse­rer Väter ver­stan­den zu haben glaub­ten- man wur­de durch­ge­prü­gelt. An solch einer Öbs­ter­bu­de kam eines Tages mein Vater mit sei­nem Fahr­rad vor­bei (daß die Sil­ber­hoch­zeit mei­ner Eltern bevor­stand, hat an die­ser Stel­le nicht viel zu sagen, man braucht ja nicht unbe­dingt nas­sen Kuchen zur Fei­er). Genau neben dem Wagen pfiff die Luft aus einem Fahr­rad­rei­fen, so daß Vater seuf­zend ab­steigen muß­te, um Luft nachzupumpen.

ein thaler belohnung
Schon damals 1861: Einen Tha­ler Beloh­nung … (Wochen­blatt Mansf. Gebirgs-Kreis)

Er klopf­te laut an den Öbs­ter­wa­gen um nach einer Luft­pum­pe zu fra­gen – allein, es ward ihm nicht auf­ge­tan.
Aus Lan­ge­wei­le – er muß­te nun auf die Luft­pum­pe eines vor­bei­kom­men­den Rad­fah­resr war­ten, was in die­ser ein­sa­men Gegend schon etwas dau­ern konn­te- stell­te er eine Lei­ter an einen Pflau­men­baum und begann einen Korb mit blau­en Bau­ern­pflau­men zu fül­len. Plötz­lich, mit­ten im Pflü­cken hör­te Vater ein »Glück Auf Kam’rad!«, das ihn fast von der Lei­ter stür­zen ließ. Aber der so Grü­ßen­de fuhr be­reits fort und frag­te Vater, ob er ihm nicht einen Obst­baum verpach­ten kön­ne, wo er doch die gan­ze Stra­ße habe? Aber ja doch Kam’rad, ger­ne ver­pachte er einen Baum wei­ter; er sol­le sich ein­fach einen aus­su­chen und eine Lei­ter kön­ne er sich auch neh­men. Was der Baum kos­ten sol­le? Naaa, sagen wir mal drei Mark; er möge das Geld ein­fach unter der Tür des Wagens durch­schie­ben, er selbst kön­ne jetzt nicht von der Lei­ter, weil er einen Scheiß­krampf in der Wade (in’n Gno­chen) habe.
Nach­dem der Fra­ger drei Mark unter der Wagen­tür durch­ge­scho­ben hat­te und sich anschick­te einen Baum aus­zu­su­chen, dreh­te Vater sei­nen Kopf wie­der in die Nor­mal­la­ge, denn wäh­rend des Gesprä­ches hat­te er ihn immer ein wenig ‑wie ein Huhn- nach oben zwi­schen die Blät­ter gedreht, um ein even­tu­ell spä­ter not­wen­dig wer­den­des Erken­nen zu erschwe­ren. Der Korb war schnell gefüllt und Vater stieg wie­der von der Lei­ter. Unten ange­kom­men, stell­te er fest, daß der Luft­ver­lust des Fahr­rad­rei­fens sooo schwer­wie­gend nun doch nicht war, so daß er ver­such­te, ob er wei­ter­fah­ren kön­ne. Es ging ziem­lich gut, und sehr gut schmeck­te eini­ge Zeit spä­ter auch der Pflau­men­ku­chen zur Silberhochzeit.

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Bürstenbinder in Not

Blind und mit weg­ge­schos­se­nem Mund­win­kel war er aus Ruß­land nach Hau­se in die Ver­bin­dungs­stra­ße zurück­ge­kom­men und als ob das nicht genüg­te, ver­rot­te­te auch noch sein rech­ter Arm auf dem Feld der Ehre. Da war das biß­chen Tuber­ku­lo­se fast schon nicht mehr der Rede wert, deret­we­gen er auf Schloss Ram­mel­burg im Rekon­va­les­zenz war.
Müh­sam tas­tend erlern­te er, in vie­le win­zi­ge Lö­cher fer­tig geschnit­te­ner Holz­blöcke mit Hil­fe einer ein­fa­chen Maschi­ne und tas­ten­der Fin­ger­spit­zen klei­ne Bün­del von Bors­ten ein­zu­zie­hen. Bevor er als hal­bier­ter Mensch aus dem Feld zurück­kehr­te, arbei­te­te er als Zim­mer­ling unter­ta­ge und war den Umgang mit Säge und Beil als Brot­er­werb gewöhnt.
Sei­ne der­art gefer­tig­ten Besen, Bürs­ten und Hand­fe­ger hol­te ein­mal in der Woche ein Motor­rad­fah­rer ab, wel­cher aller­dings sei­ne bei­den Augen noch hat­te. Die­ser Motor­rad­fah­rer trug eine fesche leder­ne Auto­kappe, wel­che beid­sei­tig je eine klei­ne Lasche mit Druck­knopf besaß, mit des­sen Hil­fe die Lasche eini­ge ein­ge­stanz­te Löcher über den Ohren ver­deckt wer­den konn­ten und eine rie­si­ge Wehr­machts-Schutz­bril­le. Bei Regen­wet­ter tausch­te er die Schutz­bril­le gegen eine Regen­brille aus.

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TBC-Heil­stät­te Schloss-Rammelburg

Er hat­te sich die­se aus zwei Kaf­feesieben und eini­gen ‑von einem Fahr­rad­schlauch abge­schnit­te­nen Gum­mi­rin­gen- selbst gebas­telt und sah damit wie eine Mons­ter-Flie­ge aus.
Der Flie­gen­mann kam stets auf einer ur-rus­si­schen Molo­tow; ein Mili­tär­kraft­rad mit Rück­wärts­gang und fest­stell­ba­rer Brem­se, an das ein Las­ten-Sei­­ten­wa­gen ‑groß wie drei Eisen­bahn­wag­gons- mon­tiert war. Die­ses Geschoß ver­ur­sach­te einen unglaub­li­chen Lärm, wenn es wie ein Pan­zer die Verbindungsstra­ße berat­ter­te. Die Dorf­hun­de streck­ten ent­we­der ihre schwar­zen und brau­nen Steckdosen­nasen un­ter den Hof­tü­ren her­vor und kläff­ten wie toll oder sie ver­kro­chen sich jau­lend in den hin­ters­ten Hof­ecken.
Rußend, vibrie­rend, damp­fend und knal­lend blieb die Teufels­maschine vor dem Haus des blin­den Bürs­ten­ma­chers ste­hen. Der küh­ne Pilot ver­schwand mit Bün­deln von Holz­roh­lin­gen im Haus­flur des Bürs­ten­manns und kam nach weni­gen Minu­ten mit des­sen Arbeits­er­geb­nis­sen einer Woche zurück, die er im Seiten­wagen der Mör­der-Molo­tow ver­stau­te. Der Stück­lohn ver­schwand in der Tasche des Blinden.

Klaus, einer mei­ner dama­li­gen Spiel­ka­me­ra­den, war der Sohn die­ses blin­den Bürs­ten­ma­chers. Ich benei­de­te ihn unge­mein, weil er einen Auto­rei­fen besaß, den er mit einem Knüp­pel geschickt über die Stra­ßen unse­res Dor­fes trieb – die­ser Ange­ber. Wir spielt­ne oft Bus, bei dem ich mit einem Kin­der­wa­gen­rad vor mei­nem Bauch der Bus­fah­rer und er ein Rad war. Hin und wie­der spiel­ten wir auch Ami und Rus­se auf den Schat­ten­mo­rel­len­bäu­men hin­ter unse­rem Haus in der Klos­ter­mans­fel­der Stra­ße. Das Spiel bestand ‑nicht ganz den Rea­li­tä­ten des Krie­ges ent­spre­chend- dar­in, daß ein auf dem Baum sit­zen­der Ami mit Stei­nen und Lehm­klum­pen den am Boden sich ver­tei­di­gen­den Rus­sen bom­bar­dier­te, wäh­rend die­ser mit den­sel­ben Geschos­sen ver­such­te, den Geg­ner vom Baum zu schie­ßen (zu fla­ken); immer gewann der auf dem Boden Agie­ren­de. Wenn wir uns genü­gend bekriegt hat­ten, brie­ten wir gemein­sam eine Kar­tof­fel auf einem klei­nen Mili­tär-Feld­ofen, der wie ein rich­ti­ger, gro­ßer Küchen­herd kon­stru­iert war.
Eines Tages, im Eifer des Spie­les, ver­gaß mein Kum­pel Klaus, recht­zei­tig nach Hau­se zu gehen, um, wie üblich, sei­nen Vater zum Spa­zier­gang zu füh­ren. Die­se Gän­ge waren not­wen­dig, damit er die Wege im Dorf neu ken­nen­ler­ne.
Sei­ne Lin­ke war, ob des aus­schließ­li­chen Gebrauchs, noch kräf­ti­ger als je zuvor, wie Klaus auf­grund sei­ner Ver­spä­tung schmerz­voll spür­te. Er führ­te den Vater auf dem Thon­dor­fer Weg zwi­schen den Äckern der damals noch exis­tierenden werktä­tigen Ein­zel­bau­ern bis an die Glei­se der Schacht­bahn.
Grau­sam lis­tig führ­te Klaus mit der bren­nen­den Wan­ge sei­nen blin­den Vater an einer Gabe­lung auf den fal­schen Pfad und ließ ihn nach einem Stück Weges mit einem »So, das hast Du nun davon« im knö­cheltiefen Schnee ste­hen und rann­te davon. Erst nach gerau­mer Zeit wur­de der im Dun­kel des Win­ter­nach­mit­ta­ges her­um­ir­ren­de Blin­de gefun­den und nach Hau­se geführt. Etwas mehr Zeit benö­tig­te Klaus, um wie­der mit mir Ami und Rus­se zu spie­len.
Irgend­wann waren Klaus und sei­ne Eltern über Nacht ver­schwun­den; sie waren rüber­ge­macht.

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Hoyers Holzbein

Der alte, gigan­ti­sche Büs­sing-Bus mit der 230 Meter lan­gen Motor­hau­be und einer sechs Kilo­me­ter lan­gen Die­sel­fah­ne schlepp­te von Eis­le­ben kom­mend sei­nen voll besetz­ten Per­so­nen­an­hän­ger in gefühl­ten zwei Stun­den den Lan­gen Berg hin­auf.
Vorn in der Zug­ma­schi­ne hock­te einer der Pas­sa­gie­re schla­fend auf sei­nem Sitz. Alle drei – Bus, Hän­ger und Pas­sa­gier – waren bre­chend voll. Der Schla­fen­de hat­te sein rech­tes, lee­res Hosen­bein mit einer Sicher­heits­na­del oben am Hosen­bund fest­gena­delt – das eigent­lich in das Bein gehö­ren­de Bein wur­de ihm in den Arden­nen abge­quetscht und ist inzwi­schen längst ver­mo­dert; der Krieg ist seit etwa acht, neun Jah­ren zu Ende. Sein Ersatz­bein, aus fes­tem, schön lackier­tem Holz gefer­tigt, schla­cker­te in der letz­ten Zeit beim Gehen seit­lich hin und her. Das war zwar sau­ko­misch, aber nicht für ihn und es war der eigent­li­che Grund, in die Kreis­stadt nach Eis­le­ben zu fah­ren, um es dort beim Ortho­pä­die­meis­ter zur Repa­ra­tur abzugeben.

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Nah­ver­ker Eis­le­ben-Siers­le­ben-Hett­stedt mit Buessing-Bussen

Danach ‑um sich die Zeit bis zur Rück­fahrt zu ver­kür­zen- steu­er­te er auf sei­nen Ach­sel­krü­cken Hem­mel Lüt­tichs Knei­pe an. Er trank ein Bier­chen und ein Körn­chen und viel­leicht noch­mal das­sel­be – wer weiß. Viel­leicht aß er ja auch noch ein durch­es Stück vom Pferd. Er schien satt zu sein, voll sowie­so – dafür war er bekannt in Siers­le­ben.
Der Bus nä­herte sich Siers­le­ben und eini­ge Pas­sa­gie­re, die aus­stei­gen woll­ten, dräng­ten sich bereits durch den über­füll­ten Bus in die Nähe der Bus­tü­ren. Da auf dem Dorf Jeder Jeden kennt, rüt­tel­te beim Halt des Bus­ses ein Aus­stei­gen­der den Schla­fen­den, der erschreckt auf­fuhr und sich erhe­ben woll­te. Das aber ging nicht so ein­fach: Das eine Bein war weit ent­fernt in einer Werk­statt und das ande­re, das er bei sich führ­te, war ihm ein­ge­schla­fen, hin­zu kam die genuss­be­ding­te Stand­un­si­cher­heit. Er war schlicht und ein­fach nicht imstan­de sich zu erhe­ben, geschwei­ge denn zur Tür zu gelan­gen. Ver­zwei­felt ver­such­te er den Sitz zu ver­las­sen und sein lau­tes Lamen­tie­ren führ­te letzt­lich dazu, daß er von kräf­ti­gen Kum­pel­ar­men über die Köp­fe der Pas­sa­gie­re hin­weg wie ein zusam­men­ge­roll­ter Tep­pich zur Tür durch­ge­reicht wur­de. Sein kräf­ti­ges Flu­chen ging im tosen­den Geläch­ter unter und im Nu fand er sich im Frei­en, auf dem Bord­stein sit­zend, wie­der. Die drän­geln­den ein­stei­gen­den Pas­sa­gie­re nah­men nicht zur Kennt­nis, daß der Ein­bei­ni­ge inzwi­schen sei­ne im Gepäck­netz des Bus­ses noch lie­gen­den Ach­sel­krü­cken ver­miß­te und wie ein Ber­ser­ker fluch­te. Mit qual­men­dem Aus­puff schau­kel­te der Bus inzwi­schen in Rich­tung Hett­stedt wei­ter.
So kam es, daß der Ein­bei­ni­ge ‑an den Wän­den der Häu­ser, die den Dorf­platz umstan­den, ent­lang hüp­fend- der gegen­über­lie­gen­den Knei­pe Fleisch­au­er zustreb­te (die er spä­ter für zwei Jah­re pach­te­te, aber, da er selbst sein bes­ter Kun­de war … usw), wo sei­ne Zech­brü­der ob sei­nes wüten­den Berich­tes laut wie­her­ten. Hier, unter Freun­den, spül­te er sei­nen Zorn hin­un­ter.
Zur Poli­zei­stun­de orga­ni­sier­te die Trink­ge­mein­schaft den Heim­transport des nun nicht mehr des Hüp­fens fähi­gen Ein­bei­ners: Sie stell­ten ihn ein­fach auf eine Sack­kar­re, wel­che für die schwe­ren, damals aus Holz oder Zink gefer­tig­ten und 25 oder 30 Fla­schen fas­sen­den Bier­käs­ten gedacht war und rat­ter­ten mit ihm über das Kopf­stein­pflas­ter der schma­len Fried­rich­stra­ße, den soge­nann­ten Schin­gerg­rahm (Schin­der­gra­ben), nach Hause.

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Das Schwein im Keller

Mut­ter berei­te­te das Abend­essen vor, als es gegen die geschlos­se­nen Fens­ter­lä­den klopf­te und wir Groß­va­ters Rufen hör­ten. Was ist wohl pas­siert?  Wes­halb wohl nimmt Opa bei die­sem Wet­ter den Weg auf sich? Mut­ter schloß die Haus­tür auf, Opa nahm einen Kar­tof­fel­sack, der als Regen­schutz dien­te und in der Art einer Kapu­ze Kopf, Schul­tern und Rücken bedeck­te, ab, trat in die Küche, setz­te sich. Vater stell­te eine Fla­sche Schacht­schnaps auf den Tisch und mit knap­per Ges­te pros­te­ten sie sich zu. Dann setz­te Opa sei­ne Pfei­fe mit dem bemal­ten Por­zel­lan­kopf (Hund und Jäger) und dem durch­lö­cher­ten Nickel­de­ckel in Brand und mei­nem Vater das Pro­blem aus­ein­an­der:
Der Gemein­de­die­ner ‑von allen im Dorf nur Män­ne genannt und bekannt dafür, daß er hin und wie­der nüch­tern war und ansons­ten mit einer bron­ze­nen Hand­glo­cke durch das Dorf zog, um amt­li­che Bekannt­ma­chun­gen zu ver­le­sen- hat­te sich in der Wirt­schaft Zur Erho­lung des Nach­bar­dor­fes ver­plap­pert. Er tute­te eine über­ra­schend ange­setz­te Vieh­zäh­lung in die­sem Dorf für den nächs­ten Tag in die Knei­pen­luft, was in der Fol­ge zu einem hef­ti­gen Stüh­le­rü­cken bei den Gäs­ten des Lokals führte.

In jener Nach­kriegs­zeit wur­den zwar in regel­mä­ßi­gen Abstän­den Vieh­zäh­lun­gen durch­ge­führt, aller­dings wur­den die­se ange­kün­digt. Man benö­tig­te die­sen Über­blick zur Ein­schät­zung der Ernäh­rungs­si­tua­ti­on. Zudem waren die Behör­den in der Lage, gezähl­te Haus­schwei­ne mit den im Jah­res­ver­lauf erfol­gen­den Anmel­dun­gen von Haus­schlach­tun­gen abzu­glei­chen. Auf  die­se Wei­se konn­ten Schwarz­schlach­tun­gen ein­ge­dämmt wer­den, denn ange­mel­de­te Haus­schlach­tun­gen führ­ten zum zeit­lich begrenz­ten Bezugs­ver­bot von Lebens­mit­tel­kar­ten für Fleisch und Fett, je nach Anzahl der Fami­li­en­mit­glie­der für meh­re­re Mona­te. Wur­de schwarz geschlach­tet, bezog man die Kar­ten weiter.

Es galt also, Groß­va­ters schwar­zen Läu­fer zu ver­ste­cken.
Vater und Opa mach­ten sich auf den Weg in das Nach­bar­dorf, um das arme Schwein aus der Gefah­ren­zo­ne zu holen. Sie began­nen, das Tier in einen Mal­ter­sack zu ste­cken, wel­ches aber nicht ohne Mühe zu bewerk­stel­li­gen war. Auf einem Hand­wa­gen wur­de die Fuh­re den Weg zurück gekarrt. Zu Hau­se soll­te Groß­va­ters Schwein unse­rem Gesell­schaft leis­ten, bis die Zäh­lung been­det war. Beim Ent­sa­cken kam der Läu­fer schnell auf sei­ne Bei­ne und im Schweins­ga­lopp ging es in den Haus­flur. Der aber besaß einen geflies­ten Fuß­bo­den…
Und so kam es, daß das Rüs­sel­tier auf den Flie­sen der zufäl­lig offen­ste­hen­den Kel­ler­tür ent­ge­gen schlit­ter­te und im Dun­kel des Kel­lers ver­schwand. Die­ser Trep­pen­sturz tat dem armen Tier nicht gut; es ver­letz­te sich und quiek­te laut. Es bestand die rea­le Gefahr, daß Nach­barn oder Stra­ßen­pas­san­ten ‑es war schon spät in der Nacht- die­ses Quie­ken hör­ten. Opa flöß­te dem Schwein eine hal­be Fla­sche Schacht­schnaps ein um es zu beru­hi­gen, was auch gelang, aber nichts an der Not­wen­dig­keit einer sofor­ti­gen Schlach­tung änder­te; es muß­te ohne Ver­zug unter das Mes­ser eines Flei­schers, die es in jedem Dorf gab und die Haus­schlach­tun­gen von Schwei­nen neben ihrem eigent­li­chen Beruf durch­führ­ten. Mein Bru­der wur­de beauf­tragt schnells­tens den Flei­cher St. her­an­zu­schaf­fen, wel­cher auch rela­tiv kurz­fris­tig mit sei­nem gesam­ten Schlacht­ge­schirr zu Hof­tür hereinklapperte.

Eine Haus­schlach­tung in den fünf­zi­ger Jah­ren erfor­der­te wochen­lan­ge Vor­be­rei­tun­gen, damit es ein rich­ti­ges Schlach­te­fest wur­de: Es galt zum Bei­spiel bei­zei­ten Ein­weck­rin­ge zu kau­fen; allein das erfor­der­te meh­re­re Fahr­ten mit dem Lini­en­bus in die Kreis­stadt. Aber man konn­te nicht ein­fach sagen: »Ich möch­te hun­dert Ein­koch­gum­mis«, nein, in einem Kon­sum- oder HO-Geschäft erfrag­te man, was man möch­te, also: »Hamm S’e Ein­goch­jum­mis? « Wur­de ver­neint, kauf­te man eben was ande­res – je nach­dem was vor­rä­tig war: Druck­knöp­fe, Schnür­sen­kel oder Hal­lo­ren­ku­geln und muß­te es nächs­te Woche eben noch­mals ver­su­chen. Wur­de bejaht, dann bekam man zehn Stück oder zwan­zig – je nachdem.

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Haus­schlach­tung eines Schweins

Der schwie­rigs­te Part der Vor­be­rei­tung bestand in der Besor­gung von Gewür­zen. Salz war dabei das kleins­te Pro­blem und war auch ohne Lebens­mit­tel­kar­ten erhält­lich. Majo­ran, Ros­ma­rin, Küm­mel und ande­re Kräu­ter sowie Zwie­beln wur­den im Schre­ber­gar­ten gezo­gen und waren auch ver­füg­bar.  Aber der Pfef­fer… Um an ein hal­bes Pfund zu gelan­gen fuhr man am frü­hen Mor­gen mit der Reichs­bahn nach West­ber­lin (Umstei­gen in Güs­ten, Mag­de­burg und Griebnitz­see), um spät abends wie­der auf dem hei­mi­schen Bahn­hof anzu­kom­men – wenn man Glück hat­te. Hat­te man dage­gen Pech, wur­de der Per­so­nal­aus­weis ein­ge­zo­gen und man war Schmugg­ler. Man erhielt einen pro­vi­so­ri­schen Aus­weis und wur­de min­des­tens eine Nacht lang fest­ge­setzt. Natür­lich war auch die Schmug­gel­wa­re futsch und damit auch das dafür auf­ge­wen­de­te Geld (Tausch­kurs Ost zu West etwa 4…6:1). Den dabei abge­nom­me­nen Per­so­nal­aus­weis konn­te man sich Tage spä­ter wie­der vom Dorf­po­li­zis­ten abho­len. Der Siers­le­be­ner hat­te in der Lin­den­stra­ße sei­ne Amts­stu­be und war ob sei­nes umgäng­li­chen Gemüts recht beliebt (was man von dem ihm eini­ge Jah­re spä­ter zur Sei­te gestell­ten, etwas bis­si­ge­ren, nicht sagen konn­te).
Neben Ein­weck­glä­sern, einer Mol­le für die Wurst­mas­se, jeder Men­ge kochen­den Was­sers zum Brü­hen der Schwar­te und nach­fol­gen­dem Abscha­ben der Bors­ten, einer Lei­ter zum Aus­neh­men und Aus­blu­ten (das aus­tre­ten­de Blut muß­te kräf­tig gerührt wer­den, um eine Gerin­nung zu ver­mei­den) benö­tig­te man wei­ter­hin eine Wan­ne zum Waschen der Där­me und noch wei­te­re Hun­der­te Gerät­schaf­ten.
Bei lega­len Schlach­tun­gen muß­te ein amt­lich bestell­ter Fleisch­be­schau­er die Tri­chi­nen­frei­heit auf der Schwar­te blau­ge­stem­pelt bestä­ti­gen. Für uns Kin­der war das Schöns­te an einer Schlach­tung, daß man ein­mal Wurst so rich­tig eikel essen konn­te, also ohne stö­ren­des Brot, wel­ches, wenn belegt, in Mans­fel­der Mund­art als Bem­me oder auch Bum­me bezeich­net wurde.

Als in den frü­hen Mor­gen­stun­den das hal­be Schwei­n­etier durch Ein­weck­glä­ser trau­rig ins Freie blick­te und die ande­re Hälf­te in die eige­nen Där­me gestopft war, mach­te sich der Flei­scher ohne Hil­fe wie­der auf den Weg nach Hau­se. Ich erwäh­ne das ‘ohne Hil­fe’ des­halb, weil in aller Regel eine Schlach­tung nicht nur eine Schlach­tung schlecht­hin ist, son­dern eben ein Schlach­te­fest. Und zu einem Fest gehört nun mal ein kräf­ti­ger Schluck aus der Pul­le. Den benö­tigt auch ein Flei­scher, um das Wurst­brät rich­tig abschme­cken zu kön­nen. Aber auf­grund feh­len­der Gewür­ze einer­seits und der gebo­te­nen Eile der impro­vi­sier­ten Schlach­tung ande­rer­seits fiel die Zeit für Der­ar­ti­ges sehr knapp aus. So kam es, daß er nach Haus ging und nicht ‑wie sonst öfter ein­mal- in einer Schub­kar­re nach Hau­se gefah­ren wur­de.
Was blieb noch zu tun? Nun, die weni­gen Brat‑, Leber- und Rot­würs­te sowie eine klei­ne Schlack­wurst, die bei­den sehr klei­nen Schin­ken und die erschre­ckend dün­nen Speck­sei­ten, die das Schwein­chen her­gab, muß­ten kon­spi­ra­tiv zur Räu­che­rung in die Gar­ten­stra­ße gebracht wer­den.
Spä­ter dann, wenn im Früh­jahr zur Flie­der­blü­te das ers­te Mal der Kuckuck zu hören war, schnitt Vater den Schin­ken an; so war es Brauch in Mans­feld.
Die im Wasch­kes­sel ver­blie­be­ne Wurst­sup­pe wur­de, eben­falls kon­spi­ra­tiv, im Lau­fe des Tages an ver­trau­ens­wür­di­ge Nach­barn ver­teilt. Nor­ma­ler­wei­se war es so, daß bei einem Schlach­te­fest im Ver­lau­fe des Vor­mit­tags Nach­barn unauf­ge­for­dert Milch­kan­nen, Krü­ge und ande­re Gefä­ße brach­ten und sie abends, mit Wurst­sup­pe gefüllt, wie­der abhol­ten; Fäs­ser wur­den abge­lehnt.
Je nach Ver­traut­heit und Sym­pa­thie des Nach­barn wur­de mehr oder weni­ger Dickes hin­zu gege­ben – das Wurst­brät geplatz­ter Wurst, klei­ne Fleisch­bäll­chen, vom Kno­chen gelös­te Fleisch­stück­chen, Gewür­ze, die auf den Kes­sel­grund absan­ken und ähn­li­ches. Die Wurst­sup­pe wur­de ent­we­der ein­fach getrun­ken oder aber man berei­te­te damit Nudel­sup­pe zu. Bei die­ser hier geschil­der­ten Schlach­tung war die Wurst­sup­pe wegen knap­per Gewür­ze etwas nüch­tern, aber tra­di­ti­ons­ge­mäß gab es zum Früh­stück Knätz­chen und zum Mit­tag­essen Schwarz­sauer mit Bir­nen, Hut­zeln und Klößen.

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Conny & Peter, Freddy und das Meer

In der Zeit, von der ich hier berich­te, waren Film­pro­gram­me DAS Medi­um, um Infor­ma­tio­nen zu einem bestimm­ten Film zu ver­brei­ten. So ein Pro­gramm­heft bestand aus zwei, drei gefalz­ten Dop­pel­sei­ten unge­hef­te­ten Papiers – in der Grö­ße irgend­wo zwi­schen DIN A5 und A4 lie­gend. Im Pro­gramm­heft wur­den Schau­spie­ler, Regis­seu­re, Kame­ra­män­ner usw. vor­ge­stellt oder auf­ge­zählt und ‑wich­tig- die Hand­lung des Fil­mes wur­de kurz umris­sen. Das Gan­ze war ein­ge­bet­tet in Bil­der des Fil­mes. Sol­che Pro­gram­me waren sehr begehrt unter uns Teen­agern – wenn sie aus dem Wes­ten kamen. Aller­dings waren Besitz und Ver­brei­tung jeder Art von soge­nann­ter »Schund- und Schmutz­li­te­ra­tur« gesetz­lich ver­bo­ten: Film­pro­gram­me, Auto­gramm­kar­ten, Roman­hef­te, Schall­plat­ten, Pres­se­er­zeug­nis­se, Noten­blät­ter, Comics, Abzei­chen, Sti­cker, But­tons, Auf­nä­her, Abzieh­bil­der – ein­fach alles.

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Wenn die Con­ny mit dem Peter…

Eines Tages, die Ber­li­ner Mau­er stand noch nicht, ich ging in die ach­te Klas­se, brach­te mei­ne Mit­schü­le­rin Ros­wi­tha eini­ge west­li­che Film-Pro­gramm­hef­te mit zur Schu­le. Es waren Pro­gram­me der damals übli­chen seich­ten Musik- und Unter­hal­tungs­fil­me, wie zum Bei­spiel »Wenn die Con­ny mit dem Peter« und »Fred­dy, die Gitar­re und das Meer« u.ä. Die­se Hef­te woll­te ich mir von Ros­wi­tha aus­lei­hen. In der Pau­se drück­te sie mir kon­spi­ra­tiv einen klei­nen Sta­pel in die Hand. Dar­in blät­ternd ging ich lang­sam zu mei­ner Schul­ta­sche, um die Hef­te dar­in zu ver­stau­en, als die Klas­sen­tür auf­flog. Ein Leh­rer (den Namen habe ich nicht ver­ges­sen) schau­te zur Tür her­ein: »Alles raus auf den Hof!»
Plötz­lich sah er, daß ich ohne Arme im Klas­sen­raum stand: »Was ver­steckst Du da auf dem Rücken?« – »Wer? … Ich? … Oooch … also … pfff … nischt …« – »Nein, nein, nein – zeig mal! Sofort! – na, wirds?!« Da ich schon immer der Schlaue­re war, muß­te ich not­ge­drun­gen nach­ge­ben und der Leh­rer fand es »see­ehr inter­es­sant«, was er da in sei­ner Hand hielt.

Er konn­te ein­fach nicht an sich hal­ten und unter­rich­te­te pflicht­schul­digst den Genos­sen Direk­tor – ein Plus­punkt mehr auf sei­nem Erge­ben­heits-Kon­to. Der Ober­ge­nos­se wie­der­um leg­te die unge­heu­er­li­chen Hetz­blät­ter wei­sungs­kon­form in die Hän­de der ört­li­chen, uni­for­mier­ten Staats­macht, die nun von Amts wegen gegen den Ver­such der Desta­bi­li­sie­rung der größ­ten DDR der Welt vor­ge­hen muß­te (und wenn man ehr­lich ist, erkennt man schon ein tücki­sches Fun­keln in den Augen der Frau Froe­bes und des Herrn Kraus; und sein Sol­da­ten­hemd erst …).
So kam es, daß es am Abend an die Haus­tür klopf­te. Mir war nicht wohl beim Öff­nen. Der Uni­for­mier­te frag­te nach mei­nem Vater und rief laut in den Flur »Wil­li! Bist­de da?« Er war da. »Gomm rin, Wil­li« ent­geg­ne­te mein Vater – bei­de waren Namens­vet­tern. Sie waren aber auch Skat­brü­der. Bei einem Schnaps berie­ten Wil­li & Wil­li über mein schwe­res Ver­ge­hen. Was folg­te, war nächs­ten­tags ein »Auf­kä­rungs­ge­spräch bezüg­lich der Not­wen­dig­keit des Kamp­fes gegen Schmutz und Schund­li­te­ra­tur« und im Wochen­ver­lauf ein Auf­satz: »Nen­ne Bei­spie­le von Boy­kott­het­ze der Scher­gen des Ade­nau­er­staa­tes«. Beim Hin­aus­ge­hen schüt­tel­te der Poli­zist sei­nen Kopf: »Du Dutz!«

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Eine Weinprobe

Es war weit­ver­brei­te­te Sit­te im Mans­fel­der Land ‑zumal in dama­li­ger Zeit- sich sei­nen Haus­wein aus Obst oder auch ‑wenn man hat­te- aus Trau­ben selbst zu kel­tern; … jaa­do­ch, ja, ich weiß, auch Schnaps wur­de hin und wie­der schwarz gebrannt. Schließ­lich war nicht jeder ein Berg­mann, der sei­nen Depu­tat-Berg­ar­bei­ter-Trink­brannt­wein nicht gera­de in Fin­ken­näpf­chen bekam.
Und ja, auch Tabak wur­de selbst ange­baut, nach der Ern­te auf Fäden gezo­gen, unter den Dach­spar­ren zum Trock­nen auf­ge­hängt, um dann, wenn er getrock­net, in fei­ne Strei­fen geschnit­ten wur­de, um ihn letzt­lich zu ver­bren­nen.
Und noch­mals ja: Groß­va­ter bekämpf­te Zahn- und ande­re Schmer­zen auch schon mal mit Mohn­pro­duk­ten; irgend­wo, hin­ter fast jeder Gar­ten­lau­be, stan­den ein paar Sten­gel­chen  – ganz hin­ten zwi­schen den Johannisbeeren.

Eines Tages ritt mich der Teu­fel und ich erzähl­te mei­nen Kum­peln, daß mei­ne Eltern für zwei, drei Tage zu einer Fami­li­en­fei­er unter­wegs sei­en. Das hät­te ich bes­ser unter­las­sen, denn abends rot­te­te sich die gan­ze Cli­que (wir spra­chen es Gklin­ke aus) ‑etwa ein Dut­zend Halb­star­ker- zusam­men und begehr­te lär­mend Ein­laß ins alten­freie Haus. Ein klei­nes Bier­fäß­chen, bei Karl Höcke erstan­den, hat­te man dem star­ken Erwin, genannt Jol­ly, auf die Schul­tern gehievt, den das nicht wei­ter stör­te und der mit der frei­en Hand ruhig sei­ne Casi­no wei­ter­rauch­te. Bevor nun aber das Bier schlecht wird … also öff­ne­te ich die Haus­tür und such­te einen Spund­hahn (eini­ge die­ser Din­ger hat­ten im Hau­se die Zeit über­dau­ert, denn um 1900 her­um war ein Teil unse­rer Woh­nung noch Schank­stu­be).
Es wur­de ein lus­ti­ger Abend und das Fäss­chen leer­te sich so nach und nach. Auf der Suche nach wei­te­rem Trink­ba­ren schreck­ten mei­ne Kum­pel vor einer Kel­ler­durch­su­chung nicht zurück und etwas Obst­wein wur­den aus einem Bal­lon in einen Krug abge­zo­gen und nach oben beför­dert.
Weil Bier und Wein ja irgend­wann auch wie­der ins Freie drän­gen und man, wenn man nach­gab, bei uns zu Hau­se durch die Wasch­kü­che in den Hof gehen muß­te, fiel der Ban­de ein wei­te­rer in der Wasch­kü­che ste­hen­der Wein­bal­lon ins Auge. Man beschloß, den Inhalt einer Wein­pro­be zuzu­füh­ren, obwohl zu sehen war, daß er sich noch in Gärung befand und des­halb auch noch nicht geklärt. Kurz­um, es gelang, die gan­ze Rot­te davon abzu­hal­ten, sich an die­sem Wein zu ver­grei­fen – fast, jeden­falls. Irgend jemand mein­te, daß sich wohl zu wenig Hefe im Bal­lon befän­de und begann den Inhalt einer zufäl­lig dort ste­hen­den Tüte, brab­belnd und von Hick­sern unter­bro­chen, in den Bal­lon zu fül­len.
Im wei­te­ren Ver­lau­fe der Nacht ver­schwan­den end­lich alle wie­der und ich blieb allein mit ein­ge­sau­ter Tisch­de­cke, ver­streu­ter Ziga­ret­ten­asche, Bernds Ziga­ret­ten­etui, Wolf­gangs Puck (ein klei­nes Tran­sis­tor­ra­dio), Ernst’s zer­tre­te­ner Son­nen­bril­le, einem Elvis-Sti­cker, einem lee­ren Bier­fass und einem Kater.
Im Ver­lauf des Mor­gens bemerk­te ich, daß der auf dem Fens­ter­brett ste­hen­de Wein­bal­lon mit Spi­nat gefüllt schien – vor­sich­tig roch ich dar­an und schmeck­te mit dem Fin­ger – Oh Gott.
Als mei­ne Eltern zwei Tage spä­ter zurück waren, schüt­tel­te mein Vater beim Abend­essen ungläu­big sei­nen Kopf und konn­te es immer noch nicht fas­sen, daß man, wenn der Wein nicht klar wer­den will, etwas hin­ein schüt­ten müs­se. In mei­ner Erklä­rungs­not hat­te ich ihm, als er bei der Rück­kehr den grü­nen Boden­satz im Bal­lon sah, etwas von Kon­den­sa­ti­ons­kei­men und Aus­fäl­len erzählt (ein Dan­ke an Kurt Klos, unse­ren Che­mie-Leh­rer); der Wein war klar wie Bie­nen­ho­nig im Gold­kelch und schmeck­te nur ganz wenig nach Majoran.

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Die Regentonne

Eines Tages flog aus einem Per­so­nen­wa­gen der Deut­schen Reichs­bahn ein aus grau­em Segel­tuch gefer­tig­ter Schuh auf den Bahn­steig des Sier­le­ber Bahn­ho­fes. In dem Schuh stak ein Zet­tel, auf dem fol­gen­de Bot­schaft notiert war: »Heinz Sch. lebt. Er ist in Gro­nen­fel­de. Wird bald ent­las­sen.« Den Schuh warf Heinz’ Kriegs­ka­me­rad, wel­cher aus dem Heim­keh­rerla­ger Gro­nen­fel­de in einen Zug Rich­tung Kas­sel ver­frach­tet wur­de, weil er ja nun irgend­wo in der ame­ri­ka­ni­schen Zone zu Hau­se war, aus dem Abteilfenster.

Heinz kam dann im Spät­som­mer 1950 aus Gefan­gen­schaft zurück. Der Krieg war bereits fünf Jah­re vor­bei und er war noch kei­ne Drei­ßig. Arbeit zu fin­den, war dazu­mal nicht das Pro­blem. Obwohl eine teil­wei­se gelähm­te und ver­krüp­pel­te Hand nicht jede Arbeit erlaub­te, fand er sein Aus­kom­men auf dem Hett­sted­ter Walz­werk. Eines Tages, kurz vor Weih­nach­ten, roll­te Heinz ein lee­res Ben­zin­fass durch Siers­le­ben in den Schre­ber­gar­ten sei­ner Eltern.

Das Schre­ber­gar­ten­ge­län­de in der Klos­ter­mans­fel­der Stra­ße wur­de zum frei­en Feld nach Thon­dorf hin vom Fried­hof begrenzt. Es han­del­te sich hier­bei um ent­eig­ne­tes Land und des­sen ehe­ma­li­ger Eigen­tü­mer L. teil­te sein ihm ver­blie­be­nes Wohn­haus ‑eben­falls in der Klos­ter­mans­fel­d­er­Stra­ße- mit den Über­le­ben­den der zwei Flücht­lings­fa­mi­li­en B. und K. .
Obst und Gemü­se aus den Schre­ber­gär­ten tru­gen nicht uner­heb­lich zur Ver­bes­se­rung der Lebens­la­ge der Siers­le­ber bei. Schwie­rig wur­de es beim Bewäs­sern des Bodens. Ein vor den Gär­ten lie­gen­der Gra­ben führ­te zwar Was­ser, aber sehr wenig und das auch noch unre­gel­mä­ßig, so daß die Päch­ter das Gieß­was­ser ent­we­der in Eimern oder im Faß auf dem Hand­wa­gen durch das Dorf schlep­pen muß­ten – sehr mühsam.

Also – das Bezin­fass. Es soll­te als Regen­ton­ne die­nen und das von dem Zwei-Qua­drat­me­ter-Gerä­te­schup­pen rin­nen­de Was­ser auf­fan­gen, um so den Johan­nis­bee­ren und dem Braun­kohl ein wenig mehr Glanz zu ver­lei­hen.
Trotz sei­nes Han­di­caps ent­fern­te Heinz in tage­lan­ger Arbeit den Ober­bo­den des Fas­ses, rei­nig­te es innen so gut wie mög­lich, teer­te es außen und hub eine Gru­be aus, um das Fass dar­in zu ver­sen­ken – mit dem obe­ren Rand viel­leicht knö­chel­hoch über dem Boden. Schließ­lich brach­te er noch eine zusam­men­ge­flick­te Regen­rin­ne an. Die Arbeit war getan und das Fall­rohr der Regen­rin­ne konn­te beim nächs­ten Regen das Faß spei­sen.
Nie­mand war dabei, kei­ner weiß wes­halb: Irgend­wie muß Heinz in sei­ne neue Regen­ton­ne hin­ein­ge­stol­pert sein, viel­leicht ist ihm auch etwas hin­ein­ge­fal­len.
Viel­leicht hat er ja anfangs das klei­ne Miß­ge­schick gelas­sen gese­hen – schließ­lich hat­te er die Sta­lin­or­geln an der Ost­front und anschlie­ßend die Pla­cke­rei des Arbeits­la­gers in der Käl­te Sibi­ri­ens überlebt.

Aber irgend­wann muß er in Panik ver­fal­len sein, als er fest­stell­ten muß­te, daß es ihm nicht gelang, sei­ne oben ‑wahr­schein­lich komisch aus­se­hend- her­aus­ra­gen­den Bei­ne hin­ein­zu­zie­hen um sich in der engen Ton­ne umzu­dre­hen und auf­zu­rich­ten. Kopf­un­ter steck­te er in der Ton­ne fest – gestützt auf eine gesun­de und auf eine halb gelähm­te Hand. Er war offen­sicht­lich auch nicht in der Lage sich an der inne­ren, schmie­ri­gen und glat­ten Wand nach oben zu stem­men – wie auch? Nach vie­len Ver­su­chen wird er ver­sucht haben, sei­ne Hand­ge­len­ke zu ent­las­ten und sich auf den Unter­ar­men abzu­stüt­zen. Wie lan­ge wohl? Nie­mand hör­te sein wahr­schein­lich anfäng­li­ches, kräf­ti­ges Flu­chen, das mit Sicher­heit in Hil­fe­schreie über­ge­gan­gen sein muß­te und kei­ne Men­schen­see­le nahm sein Wim­mern war, als nach Stun­den ein leich­ter Land­re­gen ein­setz­te. Lang­sam begann aus dem Fall­rohr ein dün­ner Faden Was­ser zu rinnen…

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Hennings Fehlschluß

An Kana­li­sa­ti­on war, wie ich bereits an ande­rer Stel­le berich­te­te, damals noch nicht zu den­ken. Ein jeder schüt­te­te sei­ne Abwäs­ser ein­fach in den Rinn­stein ‑die Gos­se. In Haus­hal­ten, in denen Vieh gehal­ten wur­de, konn­te die Men­ge der anfal­len­den Gül­le (kein Mans­fel­der spitz­te die Lip­pen, um ein sol­ches Wort aus­zu­spre­chen, es war ein­fach Jau­che) – also, die Men­ge der anfal­len­den Jau­che konn­te ein Pro­blem wer­den. War man Bau­er, hat­te man ‑sozu­sa­gen von Berufs wegen- genü­gend Acker­flä­che, um die Jau­che aus­zu­brin­gen. War man kein Bau­er, besaß aber einen Gar­ten oder war Eig­ner oder Päch­ter eines hal­ben Mor­gen Lan­des, war zwar die Men­ge der Jau­che kein Pro­blem – aber deren Trans­port. Man muß­te zum Bau­ern gehen und sich einen Jau­che­wa­gen samt Pferd aus­lei­hen oder mie­ten. Ein sol­cher Jau­che­wa­gen stand auf der leicht abschüs­si­gen Schul­stra­ße, aber nicht am Vogels­berg, wie das eine Ende der Stra­ße genannt wur­de, son­dern am ent­ge­gen­ge­setz­ten Ende, dort, wo der Weg nach Hübitz beginnt.

Dort in Hübitz wur­de jähr­lich ein Volks­fest ver­an­stal­tet. Zwi­schen Guts­mau­er und einer rie­si­gen Feld­scheu­ne (auch in ihrem Inne­ren) waren diver­se Buden, Karus­sells und sons­ti­ge Lust­bar­kei­ten auf­ge­baut, deren Ange­bo­te von den Bewoh­nern der umlie­gen­den Dör­fer sehr gern ange­nom­men wurden.

gesicht mit verschmutzter brille
Hel­mut nach geglück­tem Versuch

Auf dem Wege zu eben die­sem Volks­fest waren zwei Schul­freun­de ‑Hen­ning und Hel­mut- unter­wegs, als sie an besag­tem Jau­che­wa­gen vor­bei kamen. Bei­de über­leg­ten, war­um er hier stand, wer ihn hier­her gestellt, wel­cher Bau­er der Eigen­tü­mer sei und auch, ob das Fass denn wohl gefüllt sei. Hen­ning, der augen­schein­lich Kräf­ti­ge­re, umfaß­te die Deich­sel und beweg­te sie hin und her und befand, daß die höl­zer­ne Ton­ne leer sein müs­se, die Deich­sel war nicht eben über­mä­ßig schwer zu bewegen.

Hhmm … Hel­mut pus­sel­te, einen Lut­scher zwi­schen sei­nen von blit­zen­den Span­gen zur Ord­nung gezwun­ge­nen Zäh­nen, am Schie­ber des Aus­laufs und ver­such­te schließ­lich ‑ein­fach nur mal so und ohne Not- mit einem hal­ben, umher­lie­gen­den Zie­gel­stein, den Ver­schluß nach oben zu schla­gen. Der Ver­such glück­te.
Unter hohem Druck schwall­te die Brü­he aus dem Aus­fluss der Ton­ne, das wäre ja noch aus­zu­hal­ten gewe­sen,  nein – sie tat dar­über hin­aus noch das, wozu sie vom Prall­ver­tei­ler unter dem Aus­fluss gezwun­gen wur­de: Die Jau­che spritz­te exakt halb­kreis­för­mig und im fünf­und­vier­zig-Grad-Bogen auf­wärts und ver­sau­te alles: Her­schels Haus­wand samt Fens­ter und Türen sowie Bür­gers klei­ne Log­gia auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te. Und natür­lich Hel­mut. Er bekam die vol­le Dröh­nung aus grün-braun-gespren­kel­tem und duf­ten­dem Glib­ber zwar nicht direkt in das Gesicht, son­dern von oben auf Haa­re, Schul­tern und Klei­dung. Durch die Wucht des Jau­che­schwalls und wohl auch vor Schreck fiel er rück­wärts um und krab­bel­te mit blitz­schnell arbei­ten­den Hän­den und Füßen aus dem Platz­re­gen, wel­ches sehr komisch war. Für ande­re.
Ein Schlie­ßen des Schie­bers war unmög­lich, man muß­te etli­che Minu­ten war­ten, bis das Faß sei­nen Inhalt ent­leert hat­te. Die abschüs­si­ge Stra­ße tat ein Übri­ges um den­sel­ben gleich­mä­ßig abwärts zu ver­tei­len. Hen­ning, immer noch an der Deich­sel ste­hend, war über­rascht ob sei­ner Körperkraft.

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Obi­ge Geschich­ten beru­hen im Gro­ßen und Gan­zen auf wah­ren Bege­ben­hei­ten, auch wenn eini­ge unbe­deu­ten­de Ein­zel­hei­ten viel­leicht hier und da etwas nach­ge­färbt wur­den. Die Geschich­ten tru­gen sich in der Zeit nach dem II. Welt­krieg zu – einer Zeit, die heu­te so unend­lich lan­ge her scheint.

Hier kön­nen Sie mehr erfah­ren, wie das täg­li­che Leben in die­ser Zeit funk­tio­nier­te; einer Zeit zwi­schen zwei Dik­ta­tu­ren: Dem gera­de nie­der­ge­gan­ge­nem Faschis­mus und der sich bil­den­den DDR.
Erin­ne­run­gen: Mei­ne 50er in Siersleben


3 thoughts on “Dorfgeschichten”

  1. Ich bin fas­zi­niert von den Geschich­ten und kann vie­les nach­voll­zie­hen! Auch wenn ich etwas jün­ger (Geburts­jahr 1953) bin, ist das Erzähl­te so rea­lis­tisch und man fühlt sich zurück­ver­setzt, es kom­men so vie­le Details wie­der zuta­ge, ich kann Umfäng­li­ches nachvollziehen!
    Bin mei­nem Geburts­ort bis auf das Stu­di­um in Mag­de­burg treu geblie­ben, habe mir hier mit Mann und Töch­tern unser Leben auf­ge­baut. Kin­der sind aus dem Haus, Enkel­kin­der gehö­ren dazu, Schö­nes und Trau­ri­ges bestimm­ten und bestim­men das Leben. Es ist ein­fach bewun­derns­wert, so viel Inter­es­san­tes über mei­nen Geburts­ort Siers­le­ben lesen zu dürfen. 

    Bes­te Grüße

    Gud­run Wüs­te geb. Leye 

    Schul­zeit: 1960 ‑1968 POS Siersleben
    dann EOS Eisleben

  2. Na sicher, Wolf­gang, ken­ne ich Her­schel noch (auch sei­nen Vater, der ‑klein aber kräf­tig- Wei­chen­zun­gen zurecht häm­mer­te) – aber wes­helb hast Du ihm vorgelesen?

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