Eines Tages im Früsommer 2021 erhielt ich eine Nachricht von Frau Helga Reinhard aus Duisburg des Inhaltes, dass Sie als Kind zu Kriegsende einige Zeit in Siersleben weilte; sie sei aus dem Ruhrgebiet hierher nach Siersleben evakuiert worden.
Der Siersleber Ortschronist Friedrich Gängel erwähnt in seiner Siersleber Chronik (1. Buch / Band II) derartige Sachverhalte:
Infolge der Luftangriffe der Alliierten auf das Ruhrgebiet wurden große Teile dieses Landstriches von der Zivilbevölkerung geräumt. Auch nach Siersleben kamen Flüchtlinge von dort und wurden hier bei den Einwohnern untergebracht. […] Viele Berliner kamen in dieser Zeit auch nach Siersleben und erhielten hier ein Unterkommen. […] Nach Siersleben kommen im Januar eine große Zahl von Flüchtlingen aus den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern und Schlesien. Sie wurden in Schulen, Gaststätten sowie in Privatquartieren zunächst notdürftig untergebracht. Es war bitterkalt und die Flüchtlinge machten einen bedauernswerten Eindruck.
Frau Reinhard und ich stimmten darin überein, dass sie einen kurzen Erlebnisbericht über ihren Aufenthalt hier in Siersleben verfasst.
Dieser berührende Bericht ist damit Teil meiner Website über Siersleben geworden – Vielen Dank, Frau Reinhard.
H. Reinhard – Evakuierung in Siersleben
Hier in Duisburg wohnten wir zwischen Autobahn und Bahngleisen (stark befahrene Güterstrecke; Ausbesserungswerk).
Als es zu gefährlich für Mütter und Kinder wurde, hat meine Oma einen LKW organisiert. So fuhren wir d.h. eine Großmutter, 3 Töchter mit insgesamt 6 Kindern nach Siersleben. Wer dieses Ziel ausgesucht hat – ich weiß es nicht.
Wir wurden dort in einer Gaststätte untergebracht, deren Wirtin auf uns nicht gut zu sprechen war. In einem kleinen Raum mit 10 Personen! Das Zimmer hatte feuchte, schimmelige Wände. Wir hatten einen 1‑Flammenkocher mit einem Topf. Geschlafen wurde auf dem Boden; die Toilette durften wir nicht benutzen. Am Ende des Gartens gab es das Häuschen mit dem Herz. Leider gab es aber auch Truthähne im Garten, die uns Kindern Angst machten. Ich würde auch heute noch nie Truthahn-Fleisch essen!
Mit 6 Jahren wurde ich 1945 in Siersleben eingeschult. Zu meiner Einschulung gab es keine Schultüte, sondern in der Pfanne selbstgemachte Bonbons.
Ich erinnere mich auch noch genau an meinen Schulweg. Eine steile Treppe führte nach unten zum Schulgebäude. Im Winter war diese Treppe sehr glatt und verschneit. Wer gut lenken konnte, fuhr mit dem Schlitten dort hinunter.
Wir Kinder haben uns beim Bäcker anstellen müssen, um Brot zu bekommen. Beim Metzger gab es für uns kein Fleisch, sondern – wenn wir Glück hatten – Fleischbrühe.
Manchmal gingen wir als Familie längs einer befahrenen Straße spazieren.
Im Mai 1945 gingen wir dabei einmal auf der linken Seite der Straße zum Teil an der Hand unserer Mütter. Ein Cousin von mir pflückte auf der anderen Straßenseite an einem Hang Blumen. Plötzlich riss sich sein Bruder von der Hand seiner Mutter los, um auf die andere Straßenseite zu seinem Bruder zu laufen. Genau in diesem Moment kam auf der abschüssigen Straße ein amerikanischer Jeep. So sahen wir alle wie mein Cousin Horst überfahren wurde; der Fahrer des Jeeps konnte nichts machen und hatte keine Schuld.
Die Amerikaner kümmerten sich um unsere Familie. So sorgten sie dafür, dass wir ab sofort ein zweites, schönes Zimmer im Gasthaus bekamen und die Toilette mit benutzen durften.
Für die Beisetzung meines Cousins sorgten die Amerikaner auch; er wurde in Fallschirmseide im Garten mit Flieder als Blumenschmuck aufgebahrt. Ich erinnere mich genau an den Fliederduft. Die Amerikaner sorgten 1946 auch für unsere Heimfahrt. Dafür waren wir sehr dankbar!
Zu Haus in Duisburg angekommen, kam mein Onkel aus Afrika nach Hause; als Soldat, als Koch und Metzger ging es ihm gut und er war gut genährt. Als er seine Frau mit den zwei noch lebenden Söhnen sah, schickte er sie zu Verwandten nach Sevelen an den Niederrhein. Dort wurde geschlachtet und sie sollten sich mal so richtig satt essen! Leider blieb die Wurst über Nacht in Zinkwannen stehen und war dadurch vergiftet. Meine Tante und ihre beiden Söhne hatten eine schlimme Fleischvergiftung! Die beiden Jungs starben und meine Tante überlebte so schwer erkrankt, dass sie nicht an der Beerdigung ihrer letzten zwei Kinder teilnehmen konnte. In 11 Monaten hatte sie ihre drei Kinder verloren.
Diese Kriegswochen mit den Erlebnissen und Ängsten kann ich nicht vergessen! Eine schöne Erinnerung an diese Zeit in Siersleben war die schöne, weite Landschaft.
Immer wollte ich wissen, wo Siersleben liegt. Jetzt hat meine Tochter mir im Internet die Landschaft gezeigt. Als ich Ihre Seite mit den alten Postkarten und Berichten sah, habe ich Sie angerufen und gefragt, ob Sie an meiner Geschichte und den Erinnerungen an Siersleben Interesse haben. Sie haben mir erzählt, dass Sie in Ihrer Interessengruppe Bücher über Ihre Heimat geschrieben haben. Das finde ich ganz toll und auch sehr wichtig. Wenn wir aus dieser Zeit nicht erzählen, dann gibt es bald niemanden mehr aus unserer Generation, der davon berichten kann. Ihre Arbeit ist also sehr, sehr wichtig! Ich hoffe, Ihre Bücher werden mit großem Interesse gelesen.
Bald werde ich 83 Jahre alt. Ich bin froh, dass wir nach dem Krieg in friedlichen Zeiten leben konnten. Unsere Mütter haben in der Kriegszeit großes geleistet. Sie haben uns beschützt, ernährt und auch mit ihren Möglichkeiten eine schöne Zeit bereitet. Dafür danke ich immer wieder.
Duisburg, im Juni 2021
Helga Reinhard und Tochter Angelika